Am späten Abend, in pechschwarzer Nacht, hält plötzlich ein Fahrzeug hinter uns. – So was ist immer wieder eine komische Situation, wenn man im Niemandsland steht. Ich steige lieber mal aus, um nach dem Rechten zu schauen. – Doch es ist „nur“ ein Bulli, ebenfalls ein California. Es wird spanisch gesprochen. Wir begrüßen uns.  – Julia und Jose, sie switcht auf perfektes Englisch, nein Amerikanisch. – Also eine Amerikanerin mit ihrem spanischen Freund. So bekommen wir also neue Nachbarn und ich die Gelegenheit den Sternenhimmel etwas genauer zu betrachten. Wie es funkelt, einfach Wahnsinn.

Wir werden gegen halb acht wach. Es ist noch dunkel draußen. Doch der Sonnenaufgang kündigt sich bereits hinter dem Berg an. Ich mache die Außendusche startklar. Außen bei sieben Grad zu duschen, ist herrlich erfrischend, rede ich mir zumindest ein. Doch zuerst genieße ich den Blick über die im Nebel stehenden Berge, die Bäume und das satte Grün. 

Es gibt wieder ein Obstmüsli zum Frühstück, diesmal mit einer neuen Zutat. Ungesalzene Erdnüsse. Lecker! – Irgendwie haben wir diese in der Heimat bisher nicht wahrgenommen. Zumindest nicht ohne Schale.

Später am Morgen komme ich mit unseren neuen Nachbarn ins Gespräch. Zuerst geht es nur um die Bullis. Doch dann wechselt Julia ins Deutsche.

Ich frage sie woher sie so gut deutsch spricht. Sie sagt ihr Jiddisch wäre besser. Ich frage und sie bestätigt, dass sie Jüdin ist. – Wir stellen fest, dass wir beide die selben Jiddischen Lieder kennen. Wir reden darüber, dass ich Jiddisch immer als traurig und zeitgleich lebendig empfinde,  “Di grine Kusine”, “Dire-gelt”, darüber, dass ich erst im letzten Jahr auf einem jiddischen Konzert in einer christlichen Kirche war, über singende, orthodoxe Juden im ehemaligen Getto in Venedig. – Plötzlich beginnt auch sie „Tsen brider – Zehn Brieder“.  zu singen und ich falle ein. So singen wir gemeinsam … 

 

Tsen brider senen mir gewesn

Hobn mir gehandlt in wayn

Senen ayns fun unds geshtorbn

Senen mir geblibn nayn

 

Ich habe dieses Lied immer geliebt. Als Kaufmann weiß ich, es gibt gute und schlechte Zeiten. Dieses Lied handelt von den Schlechten. –

Plötzlich sind wir in der Vergangenheit, beim Thema Konzentrationslager. Dabei, dass ihre Oma deportiert wurde, das KZ Buchenwald jedoch überlebt hat. Sie erzählt mir wie ihre Oma in Buchenwald aus einem Berg von Stiefeln, sich ein paar Männerstiefel herausgesucht hat. „Er“ hätte sie sicherlich nicht mehr gebraucht, sei ja in’s Gas gegangen. Mir stehen die Tränen in den Augen, ich fühle mich schuldig. – So stehen wir einen Moment da, ich frage, ob ich sie in den Arm nehmen darf. Ich habe das Bedürfnis mich zu entschuldigen, was ich dann auch tue. Wir sehen uns an und gehen erst einmal auseinander.

 

Shmerel mitn fidl, Tewye mitn bass

Shpil-she mir a lidl oyfn mitn gas

Oy oy oy oy oy, oy oy oy oy oy

 

Später kommt sie noch einmal auf mich zu. – Sie erzählt mir, dass diese Geste Jose tief beeindruckt hat. Dass er die Schuld der Spanier unter der Franko Ära, vergleichbar sehe. Doch er hätte großen Respekt davor, dass „wir“ Deutschen gelernt hätten, diese Schuld in Worte zu fassen. Dazu sei kein Spanier fähig. – Wir unterhalten uns darüber, dass sicherlich auch wenige Italiener, Japaner und sonstige „Verbündete“ dazu bereit sind.

Dass ich mich für die Greueltaten unserer Ahnen entschuldige, macht mich sicher nicht zu einem besseren Menschen, doch es ist Teil meiner Empfindung, meiner Haltung. Gerade weil ich mich als vaterlandsliebend sehe, und weil ich für mich den Anspruch erhebe Patriot zu sein, versuche ich auch zu den Abgründen unserer Vergangenheit zu stehen. 

 

Shpil-she mir a lidl oyfn mitn gas

Nayn brider senen mir gewesn

Hobn mir gehandlt in fracht

Senen ayns fun unds geshtorbn

Senen mir geblibn acht 

Shmerel mitn fidl …

 

Wir sprechen noch lange darüber, wie so etwas passieren konnte, welchen Einfluss hatte die Religion, welchen das Geld und die Schuld(en). Warum es schon immer Judenpogrome gegeben hat. Welche Verknüpfung es zu Themen, Ausschluss aus den Gilden, der Verwehrung des Rechtes auf Landbesitz, auf Waffen zu tragen, jedoch entgegen der Christen Geld zu verleihen „Zins und Gült“ gegeben hat. Darüber ob so etwas noch einmal passieren könnte. Wir sprechen darüber in welchem Überfluss und Reichtum wir heute leben, und arm die vor uns waren. Unter welcher Desinformation wir heute im Überfluss der Informationen leiden. Selbst die israelische Siedlungspolitik wird thematisiert. – Darüber Verantwortung zu haben und zu tragen. Das Gespräch geht so weit, dass wir über die Verantwortung der Humans und Humanität an sich reden. Welche Verantwortung wir in die Welt tragen, welche Rolle auch heute wieder Waffen und Geld haben. Es ist ein bewegendes Gespräch. Natürlich finden auch wir keine Lösungen. Doch wir finden ein wenig Frieden. 

 

Shpil-she mir a lidl oyfn mitn gas

Nayn brider senen mir gewesn

Hobn mir gehandlt in fracht

Senen ayns fun unds geshtorbn

Senen mir geblibn acht 

Shmerel mitn fidl …

 

Später reden Torgit und ich noch ein wenig über Patriotismus und darüber wie widersprüchlich wir Deutschen doch mit Nationalstolz umgehen. Warum die Deutschladfahnen doch nur in der Hoffnung auf ein neues Sommermärchen heraus kommen “dürfen”. – Schon schräg, wenn man betrachtet, dass gerade unsere Nationalfahne, von Nazis gestern und heute abgelehnt wird. Steht die deutsche “Tricolore” doch ebenfalls für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Oder war es Einigkeit, Freiheit und Demokratie. Egal, so oder so nichts, mit dem Rechte sich identifizieren können. – Wir reden auch über Sachsenhausen, über meine Gespräche mit dem Bruder eines Arbeitskollegen, der dort im Archiv gearbeitet hat. Wir stellen uns die Frage, was es mit einem Menschen macht, der in einer solchen Gedenkstätte arbeitet. 

 

Acht brider senen mir gewesn

Hobn mir gehandlt mit ribn

Senen ayns fun unds geshtorbn

Senen mir geblibn sibn

 

Ein wenig später verabschieden sich Julia und Jose mit den Worten “Lehitra’ot”. – Wir spüren, dass unser Gespräch auf beiden Seiten Emotionen ausgelöst hat. Die Verabschiedung ist ganz besonders herzlich. Auch Jose drückt mich.

  

Sibn brider senen mir gewesn

Hobn mir gehandlt mit gebeks

Senen ayns fun unds geshtorbn

Senen mir geblibn seks

Shmerel mitn fidl …

 

Torgit und ich wollen noch ein wenig vor Ort bleiben, da wir vermuten, dass am Nachmittag, mit der Thermik unser Geier wieder aufsteigen. Vereinzelt sind sie bereits am Himmel zu sehen. – Bekommen wir das Naturschauspiel gefilmt? Wir wissen es nicht. Also nutzen wir die Zeit, um uns ein wenig mit unserer Technik zu beschäftigen. Torgit mit unserer DJI Osmo Pocket, einem Handgimbal. Ich mit unseren Aufnahmen der letzten zwei Tage. Irgendwie ist da weniger bei rausgekommen, als ich geglaubt habe. – Geier sind nur verschwommen zu sehen.

Unter Geiern - Gänsegeier im Parque Natural Los Alcornocales - Wandergebiet El Picacho

Wir machen uns am Nachmittag zu Fuß auf den Weg , um die Geier zu erkunden. Mehr und mehr Geier ziehen wie erhofft ihre Bahnen am Himmel. Ich lasse die Drohne aufsteigen, halte mich jedoch möglichst fern, um die Vögel nicht zu verscheuchen, bzw. zu verschrecken. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Geier nähern sich der Drohne sehr schnell. Plötzlich ist die Drohe von den Vögel umkreist. Nicht die Vögel haben Angst, sondern ich, zumindest um die Drohne. Ich hole sie lieber vom Himmel. Trotzdem entstehen etliche Aufnahmen. Auch vom Boden aus bekommen wir einen wunderbaren Eindruck. Wir schauen nun lieber “nur” zu. Wie soll ich beschreiben was in uns vorgeht?Was wir sehen macht uns besinnlich, beeindruckt? Mir fehlen die Worte.

Später machen wir uns auf in Richtung San José del Valle. Unseres nächster Stellplatzes für die Nacht, soll dort in der Nähe sein.  Angeblich kann man dort direkt am See stehen. –  Unterwegs sehen wir noch zwei Fischotter die Straße kreuzen. Wir kommen auch an diversen Gattern für Nutztieren vorbei. So treffen wir wieder auf Rinder,  Jungbullen, Ziegen, sowie ihre merkwürdigen Tonnenunterkünfte. Aber auch einen Ziegenbock, welcher sich in einem Maschendrahtzaun mit seinen Hörnern verfangen hat. Das Grün in Nachbars Garten wahr scheinbar mal wieder grüner. Es kostet einige Mühe den ängstlichen Bock aus seiner prekären Lage zu retten. – Und dann noch eine Ziege die ihr Neugeborenes stillt. Die Nabelschnur ist noch zu sehen. 

Als wir am See ankommen, sind wir begeistert. Ein wunderschöner Platz direkt am See. Hier die Koordinaten: 36°38’24.5″N 5°42’45.7″W Wäre da nicht wieder der unnötige Abfall. Doch es kostet nur drei bis vier Minuten und unser Platz für die Nacht ist wieder ansehnlich. Wie könnt man Camper dazu motivieren, dass jeder dem Motto folgt „Platz bitte sauberer hinterlassen, als vorgefunden“?

Ich schreibe noch ein wenig im Blog, dann werden die Filme der letzten Tage geschnitten. – Was für ein Tag, was für Eindrücke, was für Bilder.

Erkenntnis des Tages: “Berge kommen nicht zusammen, aber Menschen”

Seks brider senen mir gewesn

Hobn mir gehandlt mit shtrimp

Senen ayns fun unds geshtorbn

Senen mir geblibn finf

Finf brider senen mir gewesn

Hobn mir gehandlt mit bir

Zenen ayns fun unds geshtorbn

Zenen mir geblibn fir

 

Shmerel mitn fidl …

 

Fir brider senen mir gewesn

Hobn mir gehandlt mit hay

Senen ayns fun unds geshtorbn

Senen mir geblibn dray

 

Dray brider senen mir geblibn

Hobn mir gehandlt mit blay

Senen ayns fun unds geshtorbn

Senen mir geblibn tsway

 

Shmerel mitn fidl …

 

Tsway brider senen mir gewesn

Hobn mir gehandlt mit bayner

Senen ayns fun unds geshtorbn

Bin ich mir geblibn nor noch ayner

 

Ayn bruder bin ich mir geblibn

Handl ich mit licht

Shtarbn tor ich yedn tog

Wayl tsu esn hob ich nisht.

– – –

Zehn Brüder sind wir gewesen,

haben gehandelt mit Leinen.

Einer ist gestorben,

sind wir geblieben neun.

 

Oh Shmerl mit der Geige,

Tevje mit dem Baß.

Spielt mir ein Liedchen,

mitten auf der Gasse,

oh spielt mir ein Liedchen,

mitten auf der Gasse.

 

Neun Brüder sind wir gewesen,

haben wir gehandelt mit Frachgut.

Einer ist gestorben,

sind wir geblieben acht. 

 

Acht Brüder sind wir gewesen,

haben wir gehandelt mit Rüben.

Einer ist gestorben, 

sind wir geblieben sieben.

  

Sieben Brüder sind wir gewesen

haben wir gehandelt mir Gebäck.

Einer ist von uns gestorben,

sind wir geblieben sechs.

 

Sechs Brüder sind wir gewesen,

haben wir gehandelt mit Strümpfen.

Einer ist von uns gestorben,

sind wir geblieben fünf.

 

Fünf Brüder sind wir gewesen,

haben wir gehandelt mit Bier.

Einer ist von uns gestorben,

sind wir geblieben vier.

 

Vier Brüder sind wir gewesen,

haben wir gehandelt mit Heu.

Einer ist von uns gestorben,

sind wir geblieben drei.

 

Drei Brüder sind wir gewesen,

haben wir gehandelt mit Blei.

Einer ist von uns gestorben,

sind wir geblieben zwei.

 

Zwei Brüder sind wir gewesen,

haben wir gehandelt mir Knochen.

Einer ist von uns gestorben,

ist noch einer geblieben.

 

Ein Bruder bin ich gewesen,

habe gehandelt mit Licht.

Sterben tue ich jeden Tag,

 

 weil zu essen habe ich nichts.

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